Abstrakte Nutzungsmöglichkeiten von Bestandobjekten
03.10.2022

Abstrakte Nutzungsmöglichkeiten von Bestandobjekten

Wien, am 03.10.2022

 

1. Einleitung:

Die COVID-19-Pandemie und die damit im Zusammenhang stehenden (und mittlerweile nahezu vollständig aufhebenden) Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, brachte auch viele spannende bestandrechtliche Fragestellungen vor den obersten Gerichtshof.
Besonders die Frage, inwiefern Mieter von Geschäftslokalen zur Mietzinsminderung aufgrund pandemiebedingter Gebrauchsbeeinträchtigung berechtigt sind, war in den vergangenen Jahren immer wieder Anknüpfungspunkt für juristische Streitigkeiten und Gerichtsverfahren.
Dieser Blogbeitrag beschäftigt sich mit der Frage, der Auswirkung von abstrakten Nutzungsmöglichkeiten eines Bestandobjektes auf eine Mietzinsminderung bzw. -befreiung.

2. Zinsminderung und Zinsbefreiung:

§ 1104 ABGB regelt die Voraussetzungen der gänzlichen -Zinsbefreiung aufgrund außerordentlicher Zufälle. Unter einem außerordentlichen Zufall sind vom Menschen nicht beherrschbare Ereignisse zu verstehen, die einen größeren Personenkreis betreffen und nach dem Prinzip der Gefahrenbeherrschung der neutralen Sphäre zuzurechnen sind. Die Bestimmung nennt als außerordentliche Zufälle „Feuer, Krieg oder Seuche, große Überschwemmungen, Wetterschläge und gänzlichen Mißwachs“. Der höchstgerichtlichen Rechtsprechung folgend, ist die COVID-19-Pandemie als Seuche iSd § 1104 ABGB zu qualifizieren. In diesem Zusammenhang stellte der Oberste Gerichtshof auch bereits ausdrücklich klar, dass sich § 1104 ABGB nicht nur auf die absolute Unmöglichkeit der Benützung, sondern auf die Unmöglichkeit der Benützung zum bedungenen Gebrauch bezieht. Die Betriebsschließung bzw. Betriebseinschränkung darf nur unmittelbare Folge der erlassenden Verordnungen sein.

Behält der Mieter trotz eines solchen Zufalls einen beschränkten Gebrauch des Mietobjekts, kommt es gemäß § 1105 ABGB zu einer verhältnismäßigen Zinsminderung.

Grundlegend ist überdies zu beachten, dass § 1105 ABGB bei beschränkter Brauchbarkeit von Bestandobjekten zwischen Miet- und Pachtverträgen differenziert. Nach § 1105 S 1 ABGB wird dem Mieter, der trotz eines solchen Zufalls (§ 1104 ABGB) einen beschränkten Gebrauch des Mietstücks behält, auch ein verhältnismäßiger Teil des Mietzinses erlassen. Nach S 2 leg cit gebührt dem Pächter „ein Erlaß an dem Pachtzinse, wenn durch außerordentliche Zufälle die Nutzungen des nur auf ein Jahr gepachteten Gutes um mehr als die Hälfte des gewöhnlichen Ertrages gefallen sind. Der Verpächter ist so viel zu erlassen schuldig, als durch diesen Abfall an dem Pachtzinse mangelt“. Ist ein Bestandnehmer als Pächter zu qualifizieren, findet eine Pachtzinsminderung nach dieser – auch auf die Unternehmenspacht angewandten – gesetzlichen Anordnung daher nur unter den genannten Voraussetzungen (nur auf ein Jahr bestehendes Pachtverhältnis; Verlust von mehr als der Hälfte des gewöhnlichen Ertrags) statt.

3. Beurteilung der Unmöglichkeit der Benützung bzw. Unbrauchbarkeit des Mietobjekts:

Primärer Maßstab für die Beurteilung, ob eine Gebrauchsbeeinträchtigung vorliegt, ist das vertraglich Vereinbarte. Die Gebrauchsbeeinträchtigung kann bspw. die direkte Folge eines Mangels des Bestandobjekts sein oder aus der Störung oder Hinderung des Bestandnehmers in der vertragsgemäßen Benützung folgen, und zwar ohne, dass das Bestandobjekt selbst mangelhaft ist.

Eine vollständige Mietzinsbefreiung als Folge eines außerordentlichen Zufalls iSd § 1104 ABGB ist dann zu bejahen, wenn das Mietobjekt für den vereinbarten Verwendungszweck vollkommen unbrauchbar ist.
Ist die vertragsmäßige charakteristische Nutzung hingegen nur eingeschränkt, kommt es gemäß § 1105 ABGB zu einer Mietzinsminderung im Umfang der Gebrauchsbeeinträchtigung nach der relativen Berechnungsmethode.

4. Unbrauchbarkeit durch behördliches Betretungsverbot?

Behördliche Betretungsverbote, die anlässlich der COVID-19-Pandemie verfügt wurden, können eine Mietzinsminderung oder Befreiung rechtfertigen, wenn sich die Umsatzeinbußen auf jene Betretungsverbote zurückführen lassen, da sie so konkrete Folge einer objektiven Einschränkung des vertraglichen bedungenen Gebrauchs des Bestandsobjekts sind.

Ist der bedungene Gebrauch des Bestandobjekts durch Kundenverkehr gekennzeichnet, so führt ein Betretungsverbot aus Anlass der COVID-19-Pandemie in der Regel zur gänzlichen Unbenutzbarkeit des Bestandobjekts iS des § 1104 ABGB. Ist die vertragsmäßige charakteristische Nutzung hingegen nur eingeschränkt, kommt es gemäß § 1105 ABGB zu einer Mietzinsminderung im Umfang der Gebrauchsbeeinträchtigung nach der relativen Berechnungsmethode.

Ob eine Mietzinsminderung in Frage kommt, ist nach objektiven Kriterien zu beurteilen. Das Mietobjekt ist objektiv betrachtet durch das öffentlich-rechtliche Verbot einer Konsumation in den Betriebsräumlichkeiten weitgehend, aber durch die bestehende rechtliche Erlaubnis des Anbietens eines Liefer- oder Abholservices noch nicht vollkommen unbrauchbar.

Diese objektiv bestehende Möglichkeit (des Anbietens eines Liefer- oder Abholservices) begründet bereits eine zumindest teilweise Brauchbarkeit des Geschäftslokals, sofern ein solcher Service nicht im Mietvertrag dezidiert und zulässigerweise untersagt wurde.
Macht der Bestandnehmer keinen Gebrauch von der Möglichkeit eines derartigen Service, der sowohl öffentlich-rechtlich als auch mietvertraglich erlaubt ist, ist es iSd § 1107 ABGB seiner Sphäre zuzurechnen, sodass eine vollständige Mietzinsminderung ausgeschlossen ist.
Dabei ist es nicht von Belangen, ob der Betrieb schon vor der Pandemie einen solchen Service angeboten hat oder nicht.

Es besteht keine Verpflichtung des Mieters, einen Liefer- oder Abholservice einzurichten oder einen bereits vorhandenen Service weiterzuführen. Vielmehr bewirkt die objektiv bestehende Möglichkeit zum Anbieten eines derartigen Service bloß, dass das Mietobjekt unter dem Blickwinkel der Mietzinsminderung noch nicht als vollkommen unbrauchbar iSd § 1104 ABGB angesehen werden kann, sondern immerhin noch einen beschränkten Gebrauchsnutzen iSd § 1105 ABGB aufweist.

Das Ausmaß der Mietzinsminderung hängt von den Umständen des Einzelfalls ab.

5. Meinungsstand

In der Lehre spalten sich die Meinungen dahingehend, dass einerseits die Ansicht vertreten wird, dass aufgrund der abstrakten Möglichkeit eines derartigen Service die Bestandzinsbefreiung ausgeschlossen ist und der Vertragszweck maßgeblich ist. Andere argumentieren, dass eine teilweise Brauchbarkeit des Bestandobjekts nur für Unternehmen zu bejahen ist, die bereits vor der Pandemie einen Liefer- und Abholservice angeboten haben. Aus § 1105 ABGB solle keine Obliegenheit für Unternehmen abgeleitet werden, solche Services einzurichten, besonders angesichts der notwendigen Vorlaufzeit und Kosten.

6. Schluss:

Der OGH schließt sich erstmals in der Entscheidung 8Ob131/21d der Meinung von Pesek an und führt dazu aus, dass die objektiv bestehende Möglichkeit einen Liefer- oder Abholservice anzubieten, eine teilweise Brauchbarkeit des Bestandobjekts begründet. Dem Mieter steht aber der Einwand offen, dass die Etablierung eines solchen Services nicht sofort zumutbar gewesen wäre. Das wird besonders dann vorliegen, wenn ein nachhaltiges Verlustgeschäft aufgrund eines fehlenden Kundenkreises zu erwarten gewesen wäre. Die Beweispflicht für die mangelnde Brauchbarkeit trifft den Bestandnehmer. Jüngst hat der OGH seine Ansicht erneut in den Entscheidungen 9Ob31/22g und 3Ob209/21p bestätigt und zum Erstgericht verwiesen, das überprüfen soll, ob ein sofortiges Umsteigen auf einen Liefer- und Abholservice möglich war.